Als ich meine erste digitale Spiegelreflexkamera bekommen habe, war ich ehrlich gesagt ein wenig enttäuscht. Die Bilder sahen ja gar nicht unbedingt besser aus, als mit einer herkömmlichen digitalen Kamera. Also kaufte ich mir ein Buch („Der große humboldt Fotolehrgang“) und begann zu lesen. Schnell fand ich heraus, was die Ursache für meine „durchschnittlichen“ Bilder war: die Programmautomatik. Mir wurde klar, dass ich entweder mit einer „normalen“ Kamera besser bedient war, oder aber so schnell wie möglich von der Automatik zum manuellen Modus wechseln muss. Manuell bedeutet, dass ich selbst für die Wahl von Blende (bestimmt die Menge Licht, die in einer gewissen Zeit durch das Objektiv gelangt und hat einen Einfluss auf die Tiefenschärfe) und Belichtungszeit verantwortlich bin. Nur im manuellen Modus kann ich selbst bestimmen, wie mein Bild nachher aussehen soll.
Diamond Beach, Island (3sek/f16) Die geschlossene Blende sorgt dafür, dass Vorder- und Hintergrund scharf sind, die lange Belichtungszeit zeigt die Bewegung des Wassers
Bei Landschaftsaufnahme wählt man eine große Blende (kleines Loch, hoher Blendenwert), damit vom Vordergrund bis zum Horizont alles scharf abgebildet ist. Dadurch kommt allerdings wenig Licht durch das Objektiv und deshalb muss man die Belichtungszeit erhöhen.
Das wiederum führt dazu, dass Landschafts-fotografen i.d.R. mit Stativ arbeiten, weil die Belichtungszeiten mitunter einige Sekunden betragen können.
Will ich dagegen Eichhörnchen im Wald fotografieren, brauche ich eine andere Einstellung: eine sehr kurze Belichtungszeit (Eichhörnchen bewegen sich schnell), kombiniert mit einer kleinen Blende (großes Loch, kleiner Blendenwert), damit trotz der kurzen Zeit viel Licht in die Kamera fällt.
Das wiederum führt zu einem schönen Nebeneffekt: der Hintergrund wird unscharf und die Betonung liegt auf den Augen (falls ich es geschafft habe, sie scharf zu stellen).
Je nach Situation brauche ich also eine unterschiedliche Einstellung von Zeit & Blende. Interessant daran ist, dass das Verhältnis dabei immer genau gleich bleibt: wenn ich die Blende eine „Stufe“ schließe, muss ich die Zeit um genau eine „Stufe“ verlängern und umgekehrt. Wenn ich dieses Verhältnis nicht beibehalte, wird mein Bild entweder zu hell, oder zu dunkel.
Bei einer Online-Konferenz, an der ich vor Kurzem teilgenommen habe, wurde ein wichtiges Thema angesprochen. Nämlich die Frage, ob wir in unserem Gemeinden mehr „Retterliebe“ (die Liebe für verlorene Menschen, die Jesus noch nicht kennen) oder mehr Theologie (ich nehme hier den Begriff für Theologie stellvertretend für die konkrete Anwendung des Wortes Gottes auf das Leben der Gemeinde und des Einzelnen – man könnte es auch „verbindliche Lehre“ nennen) brauchen.
Grundsätzlich war ich froh, dass dieses wichtige Thema angesprochen wurde, denn in christlichen Gemeinden sorgt genau diese Frage immer wieder für Spannungen: Dürfen wir heute noch verbindlich festlegen (natürlich auf Grundlage der Heiligen Schrift), wie Menschen in unserer Gemeinde leben sollen? Wie sie mit ihrem Geld umgehen sollen? Wie sie mit ihren Mitmenschen umgehen sollen? Wie sie ihre Sexualität ausleben sollen? Geht so etwas heute überhaupt noch? Und was, wenn sich Gemeindeglieder dann nicht daran halten? Kann und darf eine Gemeindeleitung überhaupt Konsequenzen ziehen, Menschen notfalls sogar aus der Gemeinde ausschließen? Was wird dann mit unserem Auftrag, Menschen für Jesus zu gewinnen, wenn die (Liebe zur) Theologie wichtiger wird, als die Liebe zu den Menschen? Was ist wichtiger: Retterliebe, oder Theologie? Eine berechtigte Frage.
„Wir brauchen mehr Retterliebe“ – diesen Satz habe ich für mich als positive Herausforderung mitgenommen. Und doch möchte ich das Thema differenziert betrachten.
Ich bin vollkommen überzeugt, dass die Theologie in unseren Gemeinden nicht auf Kosten der Retterliebe gehen darf. Wir dürfen also unsere „theologische Barriere“ (Ansprüche) nicht so hoch hängen, dass Menschen erst gar nicht in die Gemeinde (oder noch schlimmer: zum Glauben) hineinfinden.
Jemand, der Jesus noch nicht kennt, muss nicht zuerst lernen, dass er nicht fluchen und bei der Steuererklärung ehrlich sein soll. Er muss erfahren, dass Jesus ihn liebt, für seine Schuld gestorben ist und ihm Leben in Fülle geben will. Und er muss sich – so wie er ist – in der Gemeinde willkommen fühlen. Steht jemand allerdings schon eine Weile im Glauben und will sich sogar in die Gemeindearbeit einbringen, sieht die Sache für mich schon wieder ganz anders aus. Je länger jemand im Glauben steht, desto mehr verändert sich das Verhältnis von Zeit und Blende, von Retterliebe und Theologie.
Eichhörnchen (1/350 sek/f2.8) Die kurze Belichtungszeit friert die Bewegung ein und die offene Blende lässt den Hintergrund verschwimmen
Das heißt konkret: je mehr wir begreifen, was Jesus Christus für uns am Kreuz getan hat, desto mehr wächst auch unser Sündenbewusstsein. Der Heilige Geist öffnet uns nach und nach die Augen dafür, welche Ansichten und Lebensweisen er verändern möchte, damit wir mehr und mehr zur Ehre Gottes leben. Die Bibel nennt diese Veränderung Heiligung. Dieser Anspruch wirft uns aber nicht aus der Bahn, auch nicht die Erfahrung, dass wir diesem Anspruch nicht gerecht werden können. Denn wir haben gelernt und erfahren, dass wir in Jesus bedingungslose Vergebung haben.
Kein Grund also, in der Gemeinde auf Theologie, auf verbindliche Lehre zu verzichten. Im Gegenteil: der Anspruch den die Heilige Schrift an unser Leben stellt, treibt uns noch viel mehr in die Arme Jesu.
Würden wir allerdings in unserer Verkündigung und Lehre auch langjährigen Christen gegenüber immer nur die Betonung auf die Retterliebe legen, würden Menschen zwar zum Glauben finden – vielleicht sogar leichter – aber sie würden nicht im Glauben wachsen. Sie wüssten zwar, dass sie Vergebung haben, wofür allerdings wird ihnen nicht erklärt. Sünde beibt für sie ein allgemeiner Begriff, der sich mit allerlei Dingen füllen lässt und doch ungefüllt bleibt. C.H. Spurgeon hat dazu Folgendes gesagt:
“Rechtfertigung ohne Heiligung würde gar keine Errettung sein;
sie würde den Aussätzigen für gesund erklären, und ihn an seiner Krankheit sterben lassen.”
In diesem Sinn plädiere ich für ein ausgewogenes Verhältnis von Retterliebe und Theologie in unseren Gemeinden, das je nach dem, mit wem ich es zu tun habe auf der einen oder anderen Seite seinen Schwerpunkt haben darf und muss. Ja mehr noch, wir sollten darauf verzichten beides gegeneinander auszuspielen. Denn wenn Außenstehende unsere Gemeinden daraufhin beurteilen, ob das was wir glauben und lehren auch einen Sinn ergibt und für ihr Leben relevant ist, dann ist gute Theologie geradezu ein Ausdruck von Retterliebe.